Von Lutz von Rosenberg Lipinsky
Die erste Turnierphase zehrte schon arg an den Nerven – aus vielen Gründen. Zum einen strengt die Zeitumstellung an, schließlich ist es den wenigsten möglich, sich schlafenderweise tagsüber von den nächtlichen Übertragungen zu erholen. Wer wäre jetzt nicht gern Beamter!
Schlimm auch sind die extremen Temperaturen und die hohe Luftfeuchtigkeit – teilweise sogar im eigenen Wohnzimmer (Zimmerpalme!). Eine Strapaze war zudem die schrecklich schlechte Tonqualität im TV, hatte man doch zwischenzeitlich das Gefühl, es handele sich nicht um einen deutschen Kommentator, der da spricht, sondern um den eigenen Urgroßvater, der sich aus dem Jenseits meldet. Den konnte man auch zu Lebzeiten nur verstehen, wenn man sich direkt vor ihn stellte – und er sein Gebiss ausnahmsweise mal nicht einzusetzen vergessen hatte.
Und dann erst die vielen Mannschaften! Und die vielen Spiele! Man hat den Eindruck, das gar keine Qualifikation stattgefunden haben kann. Es sind ja alle Länder vertreten! Gut, manche haben nur Schiedsrichter geschickt, wie Burkina-Faso oder die Mongolei. Diese wurden von der Presse aufgrund ihrer Herkunft umgehend aber auch als unqualifiziert bezeichnet. Zugestanden: Der Ausdruck „Unparteiischer“ ist das Argument, mit dem immer wieder Referees aus fußballerisch fünft- bis siebtklassigen Regionen aufgeboten werden: weil sie unbeteiligt sind. Leider sind sie deshalb tatsächlich manchmal auch inkompetent. Aber die Nationen, die sich sportlich nicht qualifizieren, sollen auf diese Weise trotzdem am schönsten Fest der Welt teilnehmen können – indem sie die anderen verpfeifen und damit das Turnier versauen. Fraglich ist nur, ob das Abstellen eines Schiedsrichters das sportlich ramponierte Ego der Sudanesen oder Phillipinos tatsächlich aufwertet. Keine Ahnung, ob in diesen Ländern die Menschen Fahnen an ihre Autos befestigen und hupend durch die Stadt fahren, wenn einer der ihren eine WM-Partie pfeift?!
Das Turnier ist einfach zu viel, zu laut, zu groß. 128 Mannschaften aus 256 Ländern – wie soll das gehen? Süd- und Mittelamerika schien in jedem Falle komplett vertreten zu sein, der Iran war dabei und sogar korrupte, undemokratische Unrechtsstaaten, wie z. B. Italien. Oder war das die Ukraine? Man verliert leicht den Überblick.
Daher habe ich diese Tage in Fernost verbracht, genauer gesagt, in China – ein Experiment, das ich jedem für das nächste Turnier zur Nachahmung ans Herz lege. Warum? Nun, als Entspannungsbehandlung. Zunächst: Die Spiele werden übertragen im Zeitraum von Mitternacht bis 9 Uhr morgens. Logischerweise bricht man spätestens nach vier Tagen zusammen und beginnt automatisch, ganze Halbzeiten zu verschlafen. Das nimmt viel Druck. Zum anderen klingt der chinesische TV-Kommentar derart daueraufgeregt, dass man irgendwann völlig abstumpft.
Vor allem aber ist man umgeben von Menschen, die sich grundsätzlich einfach nicht für Fußball interessieren, sondern anderen Sportarten frönen, wie der Hundejagd oder dem Straßenverkehr. Lachen Sie nicht: Versuchen Sie mal, als Fußgänger in Shanghai eine Straße zu überqueren!
Absurderweise gehen die Chinesen aber trotzdem zum Public Viewing, sie tragen die unterschiedlichsten Trikots (natürlich absolut original), sie rufen… ehm… Sachen, sie jubeln sogar. Allerdings weiß man nie, wann. Und warum. Und für wen. Das wissen sie allerdings selber auch nicht. Beruhigend. In einer solchen Umgebung aber verändert sich auch der zielorientierte, siegeswillige, erfolgsbesessene, patriotische Mitteleuropäer und wird zum entspannten, in sich ruhenden Betrachter. Plötzlich spielt Fußball keine Rolle mehr, es ist nur ein Spiel, der Ausgang ist gleich, Anfang und Ende sind eins. Ommmmmm….
Wenn man allerdings einen Einheimischen fragt, warum alle zum Fußball gehen, obwohl es sie nicht die Soya-Bohne interessiert?! Warum setzen sich die Chinesen um drei Uhr nachts vor die Leinwand und sehen sich schwitzend Iran gegen Nigeria an?! Die Antwort ist verblüffend: Wegen der Kohle. Die Asiaten wetten für ihr Leben gern. Und die WM ist für sie wie ein riesiges Pferderennen, sie setzen mal auf die Grünen und mal auf die Blauen. Auch das ist allerdings eine tolle Perspektive: Du guckst Fußball, ohne Dich dafür zu interessieren, amüsierst Dich über die anderen, die sich aufregen und hingeben und verdienst damit einen Riesenhaufen Geld. Die Chinesen machen es wie Uli Hoeneß. Wahrscheinlich müssen auch sie deshalb zur Strafe in einem Gefängnis leben. Tja, wie schon Tucholsky gesagt hat: Irgendwas ist immer.